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Geschichte des Monats
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Geschichte des Monats Oktober 2024
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Die Steinpalme
Eines Tages kam ein halbverdursteter Mann auf der Suche nach Wasser an der kleinen Palme vorbei. Als er sie sah, konnte er es nicht ertragen, sie in voller Pracht stehen zu sehen, während er dem Verdursten nahe war. In seinem Zorn nahm er einen schweren Stein und presste ihn mit allerletzter Kraft in die kleine und weiche Palmenkrone. Dann brach er zusammen. Es heißt, dass ihn ein paar Stunden später Kameltreiber fanden und er gerettet wurde. Für die verwundete Palme begann ein Ringen um ihr Überleben. Ihr drohte der Zusammenbruch. „Gib es auf“, sagte sich die kleine Palme, „es ist zu schwer. Es ist dein Schicksal, so früh zu sterben. Füge dich! Lass dich selber los. Der Stein ist zu schwer.“ Aber da war eine andere Stimme, die sagte: „Nein, nichts ist zu schwer. Du musst es nur versuchen, du musst es tun.“ „Wie soll ich es tun?“ fragte die Palme. „Der Wind kann mir nicht helfen. Ich stehe alleine in meiner Schwachheit. Ich kann den Stein nicht abwerfen.“ „Du musst ihn nicht abwerfen“, sagte wieder die andere Stimme. „Du musst die Last des Steines annehmen. Dann wirst du erleben, wie deine Kräfte wachsen.“ Da tauchte zwischen den Wellen des quälenden Schmerzes etwas immer größer Werdendes auf, etwas das größer wurde als der Schmerz. Eine Kraft, die sie bisher nicht kannte. Die Palme lauschte lange und immer wieder nach innen und nahm schließlich mit einem tiefen Seufzen ihre Last an. Sie verschwendete keine Kraft mehr an den Versuch, den Stein loszuwerden. Stattdessen begann sie, den Stein zu tragen. Um dafür Kraft zu gewinnen, klammerte sie sich mit ihren immer länger werdenden Wurzeln ganz tief in das Erdreich. Dabei stieß sie schließlich, als sie es gar nicht mehr erwartete, auf eine tief im Boden liegende Wasserquelle, die ihr fortan ausreichend Nahrung spendete, so dass sie zu dem größten und würdevollsten Palmenbaum heranreifen konnte, den es weit und breit gab. Von den Menschen wurde sie liebevoll und dankbar auf den Namen „Steinpalme“ getauft. Die Steinpalme war unverwechselbar in ihrer liebevollen Kraft und Eigenart. Ihre Last hatte sie herausgefordert. Sie hätte sofort nach dem Steinschlag sterben können. Doch die kleine Steinpalme hatte ihre schmerzende Last angenommen und sie über sich selbst hinausgetragen. Noch heute liegt sie in ihrer Krone und wird täglich neu in reine Lebensenergie transformiert. Denn nur die äußere Last erscheint uns als untragbar. Ist diese Schwere erst einmal angenommen, verwandelt sie sich in Weisheit, Lebensenergie und Sanftmut.
Gekürzte Version der Erzählung „Die Steinpalme“ von Pet Partisch (1984)
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